Diskussionsveranstaltung: Brasilien am Scheideweg – hat die Demokratie eine Chance?

Am 3.10.2018 hatten wir eine Runde Brasilienexpert_innen eingeladen, um im Lateinamerika-Institut über den bevorstehenden Wahlgang zu diskutieren. Und ich muss gestehen, ich bin tief besorgt. Und so waren es auch unsere Diskutant_innen, die letzten Umfrageergebnisse lassen uns bis zuletzt zittern.

Hier die Einleitung zu unserer Diskussion, die ich moderiert habe. Ein Audio-Beitrag folgt in Kürze, die Wiener Zeitung hat einen sehr informativen Artikel dazu geschrieben. (Wiener Zeitung)

Am 7. Oktober entscheiden 145 Millionen Brasilianer_innen, davon 77 Millionen Frauen, über die Zukunft ihres Landes.
Aber schon vorweg wurde 3 Millionen Menschen das Wahlrecht in einer schnellen Aktion der Wahljustiz entzogen, die eine neuerliche biometrische Registrierung erforderte und so v.a. den in abgelegenen ländlichen Regionen und den sozial Schwachen und Uniformierten den Zugang zur Urne verwehrt.

Inmitten des herrschenden „Lawfare“- Szenarios wirkt der brasilianische Wahlkampf wie ein letzter Aufschrei vor dem Ende der Demokratie. Justiz und Medien zeigen keinerlei Unparteilichkeit, im Gegenteil, sie arbeiten offensichtlich an der Zerstörung der brasilianischen Sozialdemokratie, Verfolgungs-, Verleumdungs- und Haßkampagnen gegen die Linke, ihre Führer_innen, sowie gegen fast alle Minderheiten prägen den Alltag.

Den Worten folgen die Taten: die Gewalt wird auch umgesetzt – Militärs und private Milizen ermordeten alleine im Jahr 2017 über 300 Indigene Führer_innen, Vertreter_innen der Landlosenbewegung, Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten sowie Politiker_innen der Linken.
Einen Höhepunkt bildete die Hinrichtung der lesbischen, schwarzen Favelavertreterin und Gemeinderatsabgeordneten Marielle Franco, eine der politischen Hoffnungen der Linken in Rio de Janeiro.
Die Verleumdungskampagne gegen Luis Inacio Lula da Silva gipfelte in seiner Verhaftung und einer Verurteilung im Schnellverfahren. Lula kann als Brasiliens prominentester politischer Gefangener gewertet werden.

Seit der Machtübernahme durch Michel Temer 2016, dem Impeachment der Präsidentin Dilma Roussef, das aus heutiger Sicht keine rechtlichen Grundlagen hatte und daher als parlamentarischer und medialer Putsch gewertet werden kann, ist das Land in eine tiefe Krise geschlittert.

Die Wirtschaft stagniert bei einem Wachstum von 1% per anno, der Reallohn ist gesunken, die Unterbeschäftigung bzw. Beschäftigungslosigkeit liegt bei 4,8 Mio und die Arbeitslosigkeit ist auf 13 Mio gestiegen; 1,5 Mio Menschen sind in einem Jahr in die absolute Armut gefallen. Brasilien ist bereits wieder auf der Welthungerkarte zu finden.

Das Wirtschaftsprogramm, das exakt auf das 1% der Reichsten Brasiliens zugeschnitten war – knappe 900000 Wähler_innen, ist als ausgesprochen neoliberal zu bezeichnen: eine Privatisierungswelle des Staatseigentums (zuletzt wurden 75% der Petrobras an Exxon, Chevron und Shell verschleudert), das Einfrieren bzw. Senken der öffentlichen Ausgaben für Gesundheit, Bildung und Infrastrukturmaßnahmen, die Arbeitsreform, die die Rechte der Arbeitnehmer_innen auslöschte sind nur die markantesten Beispiele.

Temers Kabinett ist von Korruptionsskandalen geprägt, Ungestraftheit ist an der Tagesordnung. Temer selbst ist nachgewiesenermassen in Korruption verwickelt, Aécio Neves, der General des Impeachments, entkam nur dank eines freundschaftlichen Urteils der Obersten Richterin Carmen Lucia dem Gefängnis, kann sich kaum in der Öffentlichkeit zeigen. Das große Thema Brasiliens, der Kampf gegen Korruption, wurde in einen Kampf gegen die Linke umgewandelt – Temer vom MDB und seine Allierten vom PSDB sind verwickelt, jedoch größtenteils ungestraft.

Das wirkt sich im Wahlkampf aus:
Das enttäuschte Brasilien spaltet sich zwischen dem rechtsextremen, mysogenen, homophoben und rassistischen Kandidaten Jair Bolsonaro, der Gewalt und, gemeinsam mit seinem Vizekandidaten General Mourão Neoliberalismus pur predigt und einer verletzen und schwer angegriffenen Linken hinter Fernando Haddad, Lulas designiertem Nachfolgekandidaten.

Militärintervention wurde mehrfach angedroht, das Ultra-Neoliberale Projekt, das fast eine komplett Privatisierung des Staates vorsieht, hängt wie ein Damoklesschwert über dem Land.

Auffällig ist die große Zahl an weiblichen Kandidatinnen für Senat und Abgeordnetenkammer, besonders die Präsidentschaftsvizekandidaturen von Manuela Davila des PcdB und der Indigenen Sonia Guajajara / PSOL, zeigen, dass die Frauen in diesem Wahlkampf mitentscheiden wollen. Ihnen stehen jedoch viele konservative Kandidatinnen gegenüber, die den StatusQuo erhalten möchten.
Im September bildete sich die überparteiliche Initiative Mulheres Unidas contra Bolsonaro, die Millionen von Frauen am 29.9. auf die Straße brachte, um gegen Faschismus und Mysogenie zu protestieren und die Wahl des Rechtsextremen zu verhindern. Ob es gelingt, wird sich zeigen.

Mit unter 3% Akzeptanz geht Temer selbst als unbeliebtester Präsident aller Zeiten in die Geschichte ein und tritt nicht einmal zu den Wahlen an. Der von der Globo gepuschte Kandidat Geraldo Alckmin (PSDB) wird zur Hillary Brasiliens, dem Kandidaten des Establishments. Alle 50 Schattierungen von Temer, wie Guillerme Boulos sie ironisch genannt hat, stehen vor dem politischen aus: Geraldo Alckmin (PSDB), Henrique Meirelles (MDB), Marina Silva (Rede), Alvaro Dias (Podemos), João Amoêdo (Novo) liegen in den Umfragen zwischen 1 und 8%, gemeinsam erreichen sie nicht einmal 21%.
Lula, der aus dem Gefängnis bis zuletzt um seine Kandidatur kämpfte, lag, bis zum endgültigen AUS am 1 September, mit rund 41% klar in den Umfragen in Führung.
Erst durch seinen Ausschluss gelang Bolsonaro der kometenhafte Aufstieg von 12% zu den heutigen über 30%.
Lulas designierter Kandidat, Fernando Haddad, der erst seit September im Rennen ist und mit 6% den Wahlkampf begann, konnte innerhalb kürzester Zeit in den Umfragewerten mit 24% bis an Bolsonaro herankommen und liegt jetzt bei 21%.

Einzig Ciro Gomes, der sich zuerst als Kandidat Lulas, dann jedoch als erbitterter Gegner des PTs positioniert, kann auch im vorderen Drittel der Umfragen mitspielen. Er sieht für sich große Chancen, die moderaten Stimmen rechts der Mitte zu vereinigen.

Der Wahlausgang ist auch 4 Tage vor der Wahl absolut unvorhersehbar, Bolsonaro, Haddad und Ciro haben alle drei konkrete Chancen, in den 2 Wahlgang zu kommen – und die Schlussduelle versprechen höchste Brutalität. Das Land ist gespalten, die Ablehnung gegen Bolsonaro liegt bei 44% zu 38% gegen Haddad.

Wie es soweit kommen konnte und was für Perspektiven sich für den Giganten Lateinamerikas ergeben, haben wir am 3.10. im Lateinamerika Institut diskutiert.

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